Manchmal ist es so: Ich sehe etwas nur kurzzeitig aus dem Augenwinkel, aber dann entfaltet sich daraus eine längere Wikipedia-Recherche. Nerd-sniped. An dieser Stelle sei eine solche Situation und die gewonnenen Erkenntnisse dokumentiert.
Und das war so: Ich habe einen Güterzug gesehen, der vorne und hinten eine Lok dran hatte. Die hintere Lok hatte den Stromabnehmer oben, fuhr also anscheinend aktiv mit.
Bild: Bundesamt für Verkehr (Schweiz): Fahrdienstvorschriften [pd]
Da fragte ich mich, wie eine solche Fahrweise wohl geregelt wird. Denn die Schiebelokomotive am hinteren Zugende soll ja weder bremsend wirken, noch die Wagen zusammenschieben. Sind die Loks mit nem Buskabel verbunden? Gibt es überhaupt Güterwagen mit durchgeschleiften Signalkabeln? Funkt die Master- zur Slave-Lok? Und mit welchem Protokoll…?
Hier folgen nun die Fundstellen und Recherche-Ergebnisse. Eine Herausforderung bei dieser Fragestellung war insbesondere, die Webseiten von Eisenbahnmodellbau-Freund:innen herauszufiltern 😅.
Befördern mehrere Loks einen Zug spricht man von Mehrfachtraktion. Die Loks können dabei sowohl hintereinander an der Zugspitze, als auch an beiden Zugenden platziert sein. Weitere Spezialfälle sind Doppellokomotiven, Zwischenlokomotiven, der Vorspann– oder der Schiebebetrieb.
Signalkabelverbindungen in Reisezügen wurden einst für Sprechverbindungen, Lichtsteuerung und Türbedienung eingeführt. Eine konventionelle Wendezugsteuerung KWS wurde zunächst mit 36-poligen Kabeln ermöglicht. Es folgte eine zeitmultiplexe Wendezugsteuerung ZWS über ein Adernpaar des 13-poligen UIC-Kabels 568. Mit dem nachfolgenden 18-poligen UIC-Kabel 558 wurde die Übertragung eines seriellen Bussignals über ein dafür geeignetes Adernpaar möglich, so zum Beispiel der Wire Train Bus WTB (basiert auf RS485), der zusammen mit dem Multifunction Vehicle Bus MVB das Train Communication Network TCN bildet . Die jüngste Weiternetwicklung des IRS 50558 verfügt über 8 Adern für Ethernet. An Loks kann man die doppelt ausgeführten UIC-Buchsen gut erkennen, siehe Bild.
Eine weitere mögliche Signalkabelverbindung ist die ep-Leitung UIC 541 für Wagen die mit einer elektropneumatischen Bremse ausgerüstet sind. Auch hier sind Datenleitungen vorhanden, über den ein Bussignal geleitet werden kann.
Solch ein kabelgebundener Bus ermöglicht grundsätzlich auch die Datenübertragung zur Steuerung von Mehrfachtraktion – falls die Wagen des Zuges diese Signale überhaupt durchleiten können. Bei Personenwagen ist das wohl oft der Fall, bei Güterwagen ist es (vor allem in Europa) eher selten. Ich wüsste jedenfalls nicht, dass ich jemals Güterwagen gesehen habe, die außer Kupplung und Bremsschlauch noch andere (Kabel-)Verbindungen untereinander hatten. Es gibt jedoch Entwicklungen zu innovativen Güterwagen und digitalen automatischen Kupplungen, die jeweils auch Datenkommunikation umfassen.
Zu Funkverbindungen zwischen Loks bei Mehrfachtraktion habe ich zunächst wenig gefunden. Man kennt üblicherweise Funkfernsteuerungen bei Rangierloks (pdf). Fündig wurde ich dann in der englischsprachigen Wikipedia unter Distributed Power, wo auf Locotrol verwiesen wird, ein Produkt für funkgestützte Regelung von Mehrfachtraktion, hier erläutert in einem Video des Herstellers und in einer Bedienungsanleitung (pdf).
Das kommt dem, was ich gesucht habe, schon ziemlich nahe. Eine Studie (pdf) zeigt, dass die Technologie vor allem in Nordamerika, China, Südafrika oder Australien eingesetzt wird und eher nicht in Europa. Ein Fundstück aus dem Jahr 2001 beschreibt ein Forschungsvorhaben der DB (pdf) an der alten Baureihe 232, dem wohl ein einzelner Einsatz folgte.
Notable Mentions:
- Eine kleine Geschichte der Entwicklung der Fernsteuerkonzepte bis 2011 bei der ÖBB (pdf).
- Präsentation zur Traktionsregelung (pdf) bei Traxx3-Lokomotiven. Ich lernte nenenbei: diese Bauart verfügt über Optionen für Diesel/Batteriebetrieb auf der „letzten Meile“ oder für Funkfernsteuerung für Rangierbetrieb.
Um zur Ausgangfrage zurückzukommen: Die Loks des von mir gesichteten Zug waren wohl weder über Kabel noch über Funk verbunden. Es wird vermutlich ein üblicher Schiebedienst gewesen sein, bei der die nachschiebende Lok mit Personal besetzt ist (zur weiteren Abschweifung: Youtube). Folgende Tatsache bestärkt die Vermutung: Der Zug fuhr von Siegen kommend in Rudersdorf die Dillstrecke entlang. Der Wiki-Artikel beschreibt, dass auf diesem Abschnitt gerade schwere Güterzüge zu einem Stahlwerk nachgeschoben werden. Und da ich diesen Post gerade wieder in Rudersdorf tippe, bin ich doch gleich mal losgezogen, um vorm Rudersdorfer Tunnel eine seltene Besonderheit zu suchen: ein Signal Ts1.
Und hier ist es zu sehen: das gekippte „T“ zeigt einer ungekuppelten nachschiebenden Lok an, dass sie sich vom Zug lösen und zur Einsatzstelle zurückkehren soll.
Viel Spaß beim Nachvollziehen der Link-Safari!
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